Ein Barbar des 20. Jahrhunderts

Von Thomas Schwarz

Am 27. August 1924 schießt sich der österreichische Schriftsteller Robert Müller am Wiener Donaukanal in der Nähe des Gaswerkstegs eine Revolverkugel durch die Lunge. Der mit ihm befreundete Robert Musil steht vor einem Rätsel und mutmaßt, dass am Ende eines gleich „doppelt versuchten Lebens“ der Verlagsdirektor Müller den Dichter Müller getötet habe. In Franz Bleis Bestiarium der modernen Literatur kommt Müller als „amerikanisch präparierter Windhund mit Flügeln“ vor: Er laufe und fliege im Zickzack und lasse sich dabei nicht verfolgen. Müllers fulminantes Hauptwerk, der Reise-Roman „Tropen“ aus dem Jahr 1915, hat nach seiner Wiederentdeckung in den 90er Jahren zwei Neuauflagen erlebt. Phasenweise war er sogar in Reclams Universalbibliothek verfügbar. Für die Literaturwissenschaft gibt es eine 13bändige, von Günter Helmes edierte Werkausgabe im Igel-Verlag. Weil sich vor allem in Müllers Essayistik auch infame imperialistische, rassistische und antisemitische Ausführungen finden lassen, bleibt Müller jedoch selbst unter Germanisten, die den literarischen Rang dieses Autors anerkennen, suspekt. Gelegentlich wird er aber auch als Vordenker einer multikulturellen Gesellschaft gefeiert.

Um 1900 setzte sich zunehmend die Vorstellung durch, dass Rassenmischung eine Degeneration nach sich ziehe, sie wurde als ‚Rassenschande‘ verabscheut. Müller dagegen zog aus seiner österreichischen Erfahrung, aus seinem Leben in einem Vielvölkerreich, einen ganz anderen Schluss. Emphatisch plädierte er für eine Vermischung verschiedener Rassen, mit dem eugenischen Ziel, einen neuen Menschen zu schaffen. Diese Hybridisierungsphantasien in den imperialen Visionen Müllers tragen zu seiner Aktualität bei.

Müller wurde am 29.10.1887 als Sohn von Erna und Gustav Müller in Wien geboren. Der Vater arbeitete als kaufmännischer Angestellter. Ein wichtiges Dokument für die Rekonstruktion der Biographie des Schriftstellers befindet sich im Nachlass des Lexikographen Franz Brümmer, den die Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt.1 Am 22.6.1922 ist Müller einer Aufforderung Brümmers nachgekommen und hat ihm einen dreiseitigen biographischen Abriss gesandt. In diesem weist er darauf hin, dass der Vater aus einer Kaufmannsfamilie im böhmischen Reichenberg stammt. Die Mutter kommt aus Köln. In ihrer Familie, mit Zweigen aus Preußen und Skandinavien, fänden sich protestantische Theologen, Offiziere und Förster. Wenn Müller seine skandinavische Abstammung mütterlicherseits betont, dann stilisierte er sich zu einem Typus, in dessen Adern nordisches Wikingerblut fließe. Müllers geistiger Vater war zweifellos Friedrich Nietzsche. Im Geburtsjahr Müllers erschien auch Nietzsches „Genealogie der Moral“. Diese Streitschrift gehörte zur intellektuellen Grundausstattung all derer, die sich um 1900 als Barbaren inszenierten. Dort, wo „das Fremde, die Fremde“ beginnt, treten sie als Raubtiere auf den Plan. Sie genießen in der Wildnis die Freiheit von sozialen Zwängen. Als übermütige Ungeheuer schrecken diese blonden Bestien nicht vor Mord, Schändung und Folter zurück. Nietzsches „Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts“ sind erobernde und herrschende Naturen.

Für Müllers Tropen-Roman ist Nietzsches Konzept des Barbarentums von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung. Er schildert eine Fahrt dreier Abenteurer auf einem Fluss in den Dschungeln Amazoniens. Vorgeblich auf der Suche nach Gold, erproben sie in dieser tropischen Zone einen barbarischen Lebensstil. Im Kontakt mit der Wildnis und den Wilden stoßen sie auf abgespaltene und verdrängte Affekte des zivilisierten Menschen. Der Protagonist des Romans ist von der Idee besessen, im Urwald nicht nur ein Kolonialreich, sondern auch gleich eine neue Rasse zu gründen. Sein Projekt will er durch sexuelle Hybridisierung mit einer Indianerin in die Tat umsetzen. Allein die erzähltechnischen Volten dieses Romans rechtfertigen schon seine Aufnahme in den Kanon der literarischen Moderne. In expressionistischer Manier werden infame Exzesse geschildert. Sie reichen von der Beschreibung eines dionysischen Tanzes mit inzestuösem Höhepunkt bis hin zu einer kannibalistischen, sadistischen Orgie. Die expressionistische Generation hat sich besonders für die Figur des Irren interessiert, der für sie den Bruch mit der bürgerlichen Normalität repräsentiert. Als exotistischer Expressionismus zeichnet sich Müllers Roman dadurch aus, dass sein Personal vom Tropenkoller befallen wird. Er erzählt von neurasthenischen Anfällen, die zu einer Befreiung vom Zwang zur zivilisierten Affektkontrolle führen.

Ob sich Robert Müller jemals selbst in die Region zwischen den Wendekreisen gewagt hat oder ob er für seinen Roman nur Reiseberichte anderer Autoren ausgewertet hat, ist ungewiss. „Reisen in Europa“ will er schon während seiner Schulzeit am Wiener Piaristengymnasium unternommen haben. Zwar habe er bereits während der Mittelschule auch „schöngeistige Versuche“ unternommen, doch das „jugendliche Interesse“ habe „anfangs nicht der Literatur, sondern „militärischen, hauptsächlich nautischen Plänen, Forschungsreisen, Weltgeschichte und organisatorischen Unternehmen“ gegolten. Nach dem Abitur nahm Müller das Studium der antiken und modernen Sprachen und der Philosophie an der Universität Wien auf. Interessiert habe er sich jedoch auch für Naturwissenschaften und Medizin, Psychiatrie und Psychologie. Jetzt sei in ihm auch der „literarische Trieb“ erwacht. 1908 entsteht die Erzählung „Irmelin Rose“, mit der Müller fünf Jahre später erst debütiert: sie sollte seine erste selbständig erscheinende, literarische Veröffentlichung werden. Für die Zeit von 1909 bis 1911 vermerkt Müller in seinem Lebenslauf „überseeische Reisen, Journalist und gelegentlich Arbeiter“. Fest steht, dass ihm sein Vater Gustav nach dem Abbruch des philologischen Studiums  ein Ticket für eine Passage auf der Graf Waldersee, einem Doppelschrauber der Hamburg-Amerika-Linie, gelöst hat. Robert Müller tritt die sein Leben entscheidend prägende Reise am 5. Februar 1910 an. Im Alter von 22 Jahren kommt er am 19. Februar mit 25 Dollar in der Tasche in New York an. Er findet zunächst Aufnahme im Haus seines Onkels Wilhelm Emmert in Flatbush/Brooklyn. Dieser arbeitet für den New Yorker Herold in Manhattan, wo er seinen Neffen als Reporter unterbringt. Phasenweise soll sich Robert Müller in Amerika als Zeitungsverkäufer, Tramp und Farmarbeiter, als Leichtmatrose oder Schiffssteward durchgeschlagen haben. Anlass zu biographischen Spekulationen bietet sein 1920 erschienener Roman Der Barbar, der die Amerikareise eines anarchistischen Nomaden schildert. Es wird kolportiert, dass Müller bis nach Westindien gekommen sei und die Tropen selbst bereist habe. Doch diese Informationen stammen aus zweiter Hand und sind mit Vorsicht zu genießen. In seinen Manhattan-Erzählfragmenten bescheinigt Müller dem melting pot New York ein „hybrides Wesen“. Als er 1911 wieder nach Wien zurückkehrt, bringt er aus Amerika eine Faszination für die Vermischung der Rassen mit, die man nicht mit dem Wunsch nach ihrem multikulturellen Nebeneinander verwechseln sollte. Im Curriculum Vitae für Brümmer gibt er an, dass er jetzt den Roman „Tropen“ konzipiert habe.

Müller arbeitet zu dieser Zeit im Wiener Kulturbetrieb mit, er reklamiert für sich eine „Vorkämpferschaft für radikale Ausdrucksmittel“, für den Expressionismus.  Politisch konservativ neigt er auf ästhetischem Gebiet zum „Radikalismus“. 1912 arrangiert er die „erste Futuristenausstellung in Wien“. Zuvor schon hatte er eine Großveranstaltung für den greisen Karl May organisiert. In diesem Zusammenhang beginnt er, sich in seinen Essays kritisch mit dem trivialen Exotismus auseinanderzusetzen, dem die Fremde nur ein Idyll unter Palmen ist. Etwa 2000 Zuhörer haben sich schließlich im Wiener Sofiensaal zu der orientalisch angehauchten Märchenstunde eingefunden, in der May mit Unterstützung der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner versucht, sein Publikum zum Pazifismus zu verführen. Auch Adolf Hitler soll zugegen gewesen sein, freilich ist der spätere Diktator von den Inhalten der Friedensrede des Erfolgsschriftstellers völlig unbeeindruckt geblieben.

Im Jahr 1914 meldete sich Müller freiwillig. Als die Alliierten den Mittelmächten barbarische Kriegsverbrechen vorhielten, forderte er die Deutschen auf, sich offensiv als infame Bestien und imperialistische Scheusale zu bekennen. Müller propagierte ein megalomanisches Kriegszielprogramm, in dem er einer kolonialen Expansion in den Tropen einen besonderen Stellenwert zuschrieb. Der Imperialismus hatte nicht nur fremde Kulturen, sondern auch Körper zusammengebracht, mit der Folge, dass in den Kolonien die Mischlingsbevölkerung wuchs. Dieses Phänomen bildete einen Brennpunkt der Diskurse über die Tropenkolonisation. Müller hat sich für Fragen der ‚Rassenmischung‘ auch aus ganz persönlichen Gründen interessiert. Anfang 1915 heiratete der evangelische Schriftsteller seine langjährige jüdische Freundin Olga Estermann. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein Kind mit ihr gezeugt, seine erste Tochter Erika. 1918 ging aus dieser ‚Mischehe‘ noch eine zweite Tochter namens Ruth hervor. Vorher aber wurde Müller an die Isonzo-Front abkommandiert, wo er Ende August 1915 beim Einschlag einer italienischen Granate einen Nervenschock erlitt. Wenn er an Brümmer schreibt, dass er den Tropen-Roman 1915 „umgearbeitet“ habe, dann kann man davon ausgehen, dass dies unter dem Eindruck der Kriegserfahrung geschehen ist. Seine Essay-Sammlung „Macht“ (1915) charakterisiert Müller als ein „Bekenntnis zu einem geistigen deutschen Imperialismus, in dem jedoch pazifistische Elemente, von den Eindrücken der Isonzoschlachten bezogen, vorklingen.“ Alle drei Brüder Müllers waren im Krieg, den jüngsten verlor er an der Dolomitenfront bei Asiago. Die Kriegserfahrung zog die generationstypische Desillusionierung nach sich, Müller näherte sich dem pazifistischen Lager an, im Rückblick formuliert er seinen Standpunkt so: „Der Krieg macht R.M. zwar nicht zum Pazifisten, wohl aber zum Internationalisten“.

Vermutlich am Mittwoch, den 2.1.1918 skizziert (Sitzung zwischen 17 Uhr und 19:30 Uhr)

Egon Schiele: Porträt von Robert Müller

Am 2.1.1918 saß Müller seinem Freund Egon Schiele Modell. Das Portrait zeigt den Schriftsteller mit einem stechenden Blick, den schon der Fotograf des Soldaten Robert Müller eingefangen hatte (vgl. Abbildungen). Es war derselbe Enthusiasmus, mit dem sich Müller in den Krieg gestürzt hatte, der sein Engagement als aktivistischer Kulturrevolutionär im Jahr 1918 beflügelte. Müller wurde die treibende Kraft eines subversiven Wiener Intellektuellenzirkels, der Katakombe, der auch Musil angehörte. In seinem Lebenslauf für Brümmer erklärt Müller, dass er bei „Ausbruch der Revolution“ keine Rolle gespielt habe, und zwar mangels „demokratischer Ideologie“. Er begründet dies mit dem Bekenntnis, „Nietzscheaner“ zu sein. Sein politischer Aktivismus weise hingegen Berührungspunkte mit dem Anarchismus und dem Bolschewismus auf.

1921 publiziert der Schriftsteller einen neuen Roman mit dem Titel „Camera obscura“. In ihm entwirft er die von Wilsons Völkerbundsidee inspirierte Vision einer imperialen Neuordnung der Erde. Gleichzeitig baut er zusammen mit seinem kaufmännisch begabten Bruder Erwin einen kleinen Zeitschriftenvertrieb zur Aktiengesellschaft mit Filialen in Budapest, Prag und Zagreb aus. Monopolartig kontrolliert Müllers Literaria-Konzern von der Wiener Zentrale mit der Adresse Tuchlauben 11 für die ganze Region der ehemaligen Habsburger Monarchie die Auslieferung des Programms namhafter deutscher Verlage von Mosse über Kiepenheuer und Ullstein bis Rowohlt. Auf dem Höhepunkt des ökonomischen Erfolgs, als das Unternehmen 1923 über 400 Mitarbeiter beschäftigt, steigt Müller als Direktor aus. Sein literarisches Kulturbild „Flibustier“ (1922) enthält schon eine Kritik der expansiven Geschäftspraktiken, welche die Literaria AG nach dem Ausscheiden Müllers in den Bankrott treiben werden. Der Zeitpunkt, den er für seine geschäftliche Umorientierung wählt, ist trotz der desolaten wirtschaftlichen Situation Österreichs im Gefolge der Nachkriegsinflation so ungünstig nicht. Mit Hilfe einer Anleihe beim Völkerbund ist das Ende der Inflation und die Stabilisierung der Volkswirtschaft in die Wege geleitet worden, so dass die Gründung eines neuen Unternehmens durchaus aussichtsreich erscheint. Im Januar 1924 lässt der 36jährige seinen eigenen, den Atlantischen Verlag ins Handelsregister eintragen und kündigt ein ambitioniertes Programm an.

Walter Benjamin spricht im Rückblick auf die Kriegsgeneration von einem neuen Barbarentum. Der Erfahrungsschatz dieser Generation war mit einer unvorstellbaren Gründlichkeit entwertet worden. Die strategische Erwartung eines schnellen Siegs im Bewegungskrieg wurde im Stellungskrieg enttäuscht, die Hoffnung auf ökonomische Sicherheit in der Inflation der Nachkriegszeit. Benjamin versucht, diesem neuen Barbarentum etwas Positives abzugewinnen, indem er auf seine Fähigkeit verweist, trotz bitterster Rückschläge immer wieder einen Neubeginn zu wagen. Ein solcher neuer Barbar scheint auch Robert Müller zu sein, der mit seinem Atlantischen Verlag noch einmal ganz von vorn angefangen hat. Doch das eingeworbene Kapital für sein Projekt hat Müller allzu großzügig aufgebraucht. Am Ende soll er einem Bekannten noch den Pelzmantel seiner Frau als Sicherheit für einen fälligen Privatkredit angeboten haben. Seine Bücher hat er ins Antiquariat getragen. Offenbar hat er zuletzt nicht einmal mehr  das Geld für den täglichen Einkauf. Sein Verlagsbüro in der Wiener Kollergasse soll gepfändet worden sein. Der Totenschau-Befund vermerkt, dass sich Müller einen Lungenschuss beigebracht hat. Die Begräbniskosten musste die Gemeinde Wien übernehmen. Seit November 2005 gewährt ihm die Stadt ein Ehrengrab und kommt für die Pflege des Familiengrabes mit der Nummer 99 im 23. Geviert des Matzleinsdorfer Friedhofs auf.

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1 Der Nachlass von Franz Brümmer wird in einem Kooperationsprojekt von Staatsbibliothek und Humboldt-Universität zu Berlin erschlossen und online ediert. Bei der Bearbeitung der Mappe zu Robert Müller habe ich nach der Entdeckung dieses bedeutenden Dokuments mitgewirkt, im Austausch mit Christian Thomas, dem an dieser Stelle mein Dank für die freundliche Zusammenarbeit gilt.zurück