Entropie

Dieser Essay ist in der gedruckten Werkausgabe nicht enthalten.

Robert Müller: Der verprügelte Antipode. In: Der Zwiebelfisch. Zeitschrift über Bücher, Kunst und Lebensstil. Hg. von Wolfgang Weber (München). Doppelheft 3/4, 18. Jahrgang 1925, S. 65-70.

Die Asche, um die sich das geistige Leben sachlich zu organisieren hat, ist die Wirtschaftslage aller im höheren Sinn geistig produzierenden Menschen. Bürgerliche Macht erscheint sofort auf dem Plan, wenn das Einkommen gesichert ist. Aktivisten hätten also vor aller Programmphilosophie eine Tarifpolitik zu machen, um, bevor sie anderen helfen, sich selbst zu helfen. Damit ist der Zustand gesellschaftlicher Respektabilität erreicht. Jede Partei, die das gegenwärtige finanzpolitische System bekämpft, ist die Partei der Aktivisten. Der Kapitalismus beruht schließlich auf dem Grundsatz der billigen Arbeitskräfte; sind die Arbeitskräfte nicht billig, so gibt es keine Kapitalakkumulationen. Denn der Witz besteht ja eben darin, daß der Unternehmer weniger gegenleistet als er soll. In der Differenz zwischen der Leistung des produzierenden Menschen und der des verwertenden Menschen liegt des Kapitalismus Wurzel. Die großen Betriebe auf kapitalistischer Basis bieten aber dem geistig schöpferischen Menschen schon darum geringe Aussichten, weil, welch lobenswerter Absicht immer der repräsentative Führer eines solchen Betriebes sein mag, die Mündungsgeschwindigkeit seines Werkes nach dem Durchlaufen des Apparates nahezu bis Null herabgesunken ist. Wenn nicht gegebene konsumtive Kräfte das Produkt an sich saugen, also eine Tiefenwanderung wie die meteorologischer Gefälle von selbst entsteht, so kann der ungeheure Schutz des Schöpfungsaktes niemals ins Schwarze treffen.

Der Geistige müßte also auch zum Expeditor seines Geistes werden, da er aber gegen die Konkurrenz eines Großbetriebes nicht aufzukommen vermag, da es vor allem seine Kräfte übersteigt, Konsumenten zu bearbeiten, so muß er sich mit anderen, in ähnlicher Lage befindlichen schöpferischen Individuen gruppieren, um zuerst einmal Aufmerksamkeit, dann gestaltlose Konsumtionsgruppen und in dritter Linie gestaltete Konsumentenorganisationen zu schaffen. Ein Einzelner vermag hier gar nichts. Auch zehn vermögen nichts, obwohl die Bewegung durch Einzelpersönlichkeiten in Fluß gebracht werden muß. Nur große und umfangreiche, komplette Zusammenfassungen, vor allem weil sie zwangsläufige Maßnahmen ermöglichen, sind hier von Wert.

Geist ist als Auch-Wirtschaftsprodukt zu oktroyieren, sowie im Simmelschen Sinne Geist und Geld ja Implikationen darstellen. Das Buch als Lektüre, als sensueller Marktartikel spielt dabei keine Rolle. Ein solches Buch stammt nicht von geistigen, sondern von begabten Menschen. Es handelt sich hier nicht um begabte, sondern um geistige Erscheinungen. Denn natürlich sind die Begabungen unserer Zivilisation keineswegs schlecht bestellt. Nur eine Begabung, „Geist“, ist verkürzt.

Instanzschaffung und Wertstaffelung wird aber das geistige Leben mandarinisieren. Unser Intelligenzüberbau hat bereits durch staatliche Maßnahmen zum Abbau von Mittelschulen und Bildungsstätten eine prophylaktische Reduktion erfahren. Was an der Quantität erspart wird, könnte der Möglichkeit, die Qualität sicherzustellen, zugute kommen. Um dem Widerstand die praktische Form zu geben, empfiehlt sich der französische Versuch einer syndikalistischen Organisation mit vertikalen Organisationsreihen. Was ermöglicht werden soll, ist: ein Kloster der Outsider zu bilden; dieses hat die Geschäfte mit Vertikalbetrieb auf kommunistischer Grundlage zu führen. Der Begriff „Kloster“ aber bezöge sich nur auf die wirtschaftliche Klausur. Man kann es ebensogut einen „Konsumverein“ nennen. Die Produkte werden durch Verlags- und Vertriebsinstitute lanciert. Der Erlös fließt in eine gemeinsame Wirtschaftskasse, die von kommerziell geschulten Personen geführt wird. Der Einzelne erhält kein Honorar, sondern eine Rente. Die Verhältnisse ähneln mehr einer Zunft als der Gewerkschaft, die vielmehr eine gleichstrebige Arbeit voraussetzt. Am schwierigsten zu lösen ist die Frage des geistige Konkurrenzkampfes; denn der Bekenner der einen Auffassung müßte, um die des andern gänzlich unschädlich zu machen, auch dessen wirtschaftliche Vernichtung wünschen. Der Gegensatz zwischen zwei Geistern ist tödlicher als der zwischen materiellen Gegnern. Denn Interessen gleichen sich aus; es liegt in der Natur des Geschäftes, daß inkommensurable Risiken vermieden werden. Erst die neueste Zeit kennt jenes Gemächte aus gröbstem materiellem Vorteil und Idealismus: die Interessenideen, die Aufsteigerung unbewußter Profitgier zu allgemeiner humaner Bedeutung. So spricht die Schwerindustrie von „Vaterland“ und der „Nation“ im Verstande von ungeheuren komplexen Geschäfts- und Verdienstmaschinen; ihre Monströsität heiligt sie und sichert ihnen Verehrung. Aber eben weil es nicht mehr ideologische, sondern „interessenideologische“ Organisationen sind, unter alte historische Begriffe nominatim substituiert – Pseudomorphosen, sagt Spengler –, ergeben sich Ausgleiche leichter als man glaubt; es herrscht das Rentabilitätsprinzip; wo Kämpfe geführt werden, werden sie auf einem dem Territoire dieser Interessengewächse nicht angehörigen Lebensboden ausgekämpft, also meist von Klienten und Auxilianern, denen der „Cives“, das heißt das Recht auf Profit versprochen ist. Auxilianer sind die „Geistigen“. Ihrer bedienen sich die Interessenchefs, ohne um den Frevel zu wissen. So hat der alte Staat patriotische Lyriker erzeugt und Stinnes, Castiglioni und Bosel und Konsorten „erhalten“ durch Zeitungsaufkauf oder Gründung „Journalisten“, die ihnen mit Begeisterung über die eigene Nobilitierung mittels losgelassener Vielschreiberei die Börsennachrichten wattieren, auf Grund derer jene ihre Spekulationen lancieren. Totgemeldet bleiben auf der Strecke die begeisterten und verblendeten Auxilianer. Mit dem ökonomischen „Cives“ ist es Essig. Sie heimsen Verachtung zu ihrer Misere. Wer den Schaden, hat auch noch den Spott des Zeitalters.

Hier brechen die Gedankengänge ab. Die Schlußfolgerung ist unfertig. Es müßte nämlich statt des Denkens die Handlung folgen. Sie bestünde im spontanen Rütlischwur aller Betroffenen. Wissen wir schon, wer in Deutschland trotz seines Elends sich, kommt’s drauf und dran, betroffen fühlt? Dreiviertel werden wegschauen, weil Einer sie störte. Vom Viertel schreibt der Eine dem Staat lieber Patriotika gegen Hungerehren und der Andere gibt gegen Ausbeuterhonorare dem Wirtschaftsteil irgendeines Riesenblattes des X-Konzerns die literarische Fassade.

Oft gesagt, oft anerkannt, niemals beherzigt, niemals begeistigt. Grund: die noch allzugroße Virulenz der Persönlichkeit. Folge: die geistige Entropie. Die geistig höchststehenden und orginellsten Autores – Künstler, Artisten, Studenten, Forscher – haben die naturgemäß kleinste ökonomische Widerstandskraft und verschwinden wie der bellikose und anständige Uradel zuerst. Kein vitaler Mensch wird entweder so leben können, noch es wollen. Für sechs Monate Selbstaufopferung erhält er einen Betrag, der ihm drei Tage Subsistenz gewährt. Er wird trotz oder wegen seiner Vitalität ins Extreme schlagen und Boxer oder Börsenjobber werden. Am gefährlichsten wird die Erscheinung, wenn diese Kraft, durch eine Affinität auf den eigenen Berufszweig verwiesen, im lebendigen Protest gegen das Schicksal, an die polare Stelle zurückschießt und aus dem verschlagenen Künstler der Ausbeuter seiner Kameraden wird. Unter Zeitungsfürsten, die aus der Branche kamen, ehemals demagogische Freiheitsjournalisten waren, unter Verlegern, Kunsthändlern triffst du, neben altem Bestande, diesen grausamsten aller Exploitatoren an: der seine Herkunft haßt, das Metier gleichsam, das ihn durch Versagen werden ließ, was er jetzt sein muß: der zugleich aber die Eifersucht hegt und zärtelt gegen die, die dauerhafter, bei der produktiven Stange blieben: an die er sie jetzt hängen wird, den Galgen täglich vorm Fenster, dem er entging.

Diese Leute sind notorisch schikanöse Erpresser. Sie sind es mit Leidenschaft. Harmlos wirkt daneben der traditionelle, karg zuteilende Ämmler und patriarchalisch bemutternde Finanzpastor. Er ist bloß stupide, nicht bös. Den Glanz seiner Villa und seines Autos überträgt er auf seine Mitarbeiter – glaubt er –, indem er sie mal zum Mittun einlädt und sich selbst sehr kollektivistisch erscheint, weil er jeden an die Reihe kommen läßt. Da gibt es Abendessen, Ferienaufenthalt, Touren, Trinkgelder – man kann es nicht anders nennen. Unwissen um ihr instinktives Wollen, verhindern sie alle das Eine: die wirtschaftliche Mannbarkeit des Schöpferischen. Und der verprügelte Antipode schweigt geistvoll. Diese Aspekte gelten nicht nur für Deutschland, das vielmehr das Absurde der Sachlage greller beleuchtet. Sie gelten für Österreich, für Mitteleuropa heute, für Europa morgen. Immer noch behalten nicht nur, sondern erwerben Zeitungschefs, Verleger und Kunsthändler Villen und Automobile, während die Verfasser von Dutzenden erlesener Bücher buchstäblich am Stroh eines ausverpfändeten Ateliers oder in dürftigen Mietlöchern – aussterben. Und die Verfasser ungelesener, weil bester Bücher? Es gibt sie nicht mehr. Schwindsucht oder das Gegenteil: Schauathletik, die schwerverdient: Weinkrämpfe oder wilde Unternehmerei im eigenen Haag.

Das ist die Entropie. Die obere produktive Schicht wird durch den Wirbelwind der Zeit erodiert, der alte Kulturbesitz in pulverisierter Form faßbar gemacht. Statt der Ritter bleiben die Höflinge des Geistes, domestiziert in ein Erwerbsbürgertum, bald nur mehr Visitkarte für einen Salon, in dem sie gespeist werden, um neue Lieferungen für Visiten zu erbrechen. Der Handel aber blüht. Auf einen Autor kommen sechs Verlagsdirektoren, in den Zwischenhandelsunternehmungen ist es noch schlimmer; alle mit großen Gagen und der Anwartschaft auf das Auto – und das eigene Unternehmen. Aktionäre, Besitzende aller Schichtungen vom besten Adel bis zum Neuen Gelde finanzieren Aktiengesellschaften mit jährlich mehrmaligen Emissionen, wo bei Syndikatsverdiensten man sich Kulturförderung und der Behörde einen Steuernachlaß einreden kann. Es gibt Verlage, die als Aktiengesellschaften geboren werden und nicht ein Buch besitzen: im bloßen triebhaften Vertrauen auf den billigen Vorrat an ungedrucktem Rohstoff kursieren die Papiere und treiben unmotivierte Agios: der ungeheuren konsistenten Wirtschaftskraft des Unternehmens, die Zukunft, Propaganda, kräftigen Nachdruck verheißt, naht sich der Produktive im Vorhinein mit der Hoffnung, aber auch mit Verzicht: mit Hoffnung nur, weil er vergessen hat, daß der Inhaber des Papieres jener Gesellschaft gar nicht speziell ihn meint, er spekulierte ja mit dem anonymen Autor, dem Autor schlechthin; er profitierte im Vorhinein an Differenzgeschäften auf die Chance dieses Autorenelends hin; und diese Geschäfte muß der Autor dann bezahlen, wenn ihm der verhandelnde Direktor das Honorar nennt, schlau kaschiert in legal anständigen Verpflichtungen, die durch die Termine wieder vollständig aufgehoben sind. Mit einem falsch lächelnden Vertrag in der Tasche begegnet der Produktive beim ersten Schritt auf der Straße dem Auto eines seiner Händler, der ihm ja auch anonym ist, morgen ist es ein anderer … und das er soeben mit seinem pseudoedlen Vertrag … bezahlt hat.

Folge: Das Zerbrechen des Persönlichkeitskammes, das Einebnen der obersten geistigen Funktionen. Folge davon: Die Organisierbarkeit der geistigen, mandarinenhaft gewordenen Typen. So könnten sie – wir nicht, aber unsere Kindeskinder – und wenn Fords Kleinautos noch etwas billiger werden, immer noch als „Stand“ die Aeonen überdauern.

Robert Müller +

(Anm.: Robert Müller sandte uns kurz vor seinem freiwilligen Ende obigen Aufsatz unter dem Titel „Entropie“. Wir verweisen im übrigen auf die Glosse seines literarischen Nachlaßverwalters Dr. Ernst Rutra auf S. 97).