Belgrad

Die folgende Artikelserie erschien 1916 in der „Wiener Mittagszeitung“. Einen Teil der Beiträge hat Müller 1917 in den Essay-Bd. „Europäische Wege“ aufgenommen. Hier die Transkription der Erstdrucke:

 

Das Monument der serbischen Prärie

Wir suchen die serbische Seele

Robert Müller[1]

Wir finden das serbische Land, in seinem Grün und seinen Felsen, seiner Fülle und seiner erbarmungslosen harten Nacktheit. Der Serbe hat einen Trieb zur Monumentalität. Aber im Kleinlichen seines Raumes, seiner Gesellschaft, ja, in der Enge seines noch rohen Könnens wird sie zum Monument, zur Zierde. Seine Sehnsucht greift massiv, formt aber ohnmächtig. Sie greift nach der großen, lebhaft bewegten Gesellschaftlichkeit, nach der Macht, nach dem Weltstaat, strebt hinaus aus der sozialen Geschnürtheit, in der unklare Halbnaturen, Dorfherren, Stammesdespoten, die selbst wieder Früchte der Sorge und gequältes Erz der serbischen Zange sind, das gesellige Dasein erhalten. Und wenn sein Wollen aus dieser Atmosphäre, in der es edel schien, in die starke Luft des geistigen Europa tritt, erstarrt es zum politischen Putsch, zur Geheimbündelei, zur Weltheldengeste des kleinen Horizonts. Mittelalterliche Verspätung des Fühlens webt zwischen verfallenen Dörfern, durch die wir fahren, Räuberromantik spinnt zwischen Buschschlüpfen, zikadenerfüllten Heiden, verdeckten Häuschen, interessant wilden Gäßchen am Stadtende. Die Kinder, kleine kräftige Tiere, und männliche und weibliche Greise, zerflatterte Vögel, abenteuerlich vom Leben zerflickte Seelen in den Körper gewordenen Formen ihrer Leidenschaften, schießen, kletrtern, wackeln an den Straßenrand, an dem wir vorbeirasseln, oder tauchen phlegmatisch aus undefinierbaren Interieurs in Türfüllungen und über Fensterbrüstungen. Kämpfe innen und außen haben diese Alten zerstört, gehärtet, geläutert, betäubt.

Der monumentalische Serbe ist eine Hypothese, die ich begründe. Sie ist so gut wie irgend eine Hypothese, zum Beispiel über das Radium. Aber das merkwürdige Radium kann man definieren. Den Menschen drückt nicht die Beschreibung, sondern die Metapher besser aus. Ich verantworte meinen Serben mit den Visionen, die mir aus der serbischen Prärie aufsteigen.

Zwischen Buschgruppen und Laubdickicht, in mineralgrüne Wiesen versenkt bis zum kleinen Fensterviereck, stehen hingewürfelte Kalkquadern ohne Ordnung, sich die Kanten weisend. Sie sind ebenso hoch, daß ein großer Mann drin stehen, ebenso breit und tief, daß zwei Frauen oder Kinder drin an einer Wand schlafen können. Auf diesen Sockeln, seinem Heim und Herd, seinem Um und Auf, baut der Serbe, während draußen die Zwetschgenbäume für ihn wild wachsen, seine Träume, seine Größe, seine Herrschaft, seine Weltmacht auf. Auf diesem angekalkten, tiefsinnigen, klassischen Lehmvierecke als Postament sieht er sich in Überlebensgröße um das Leben ringen.

Ein Monument aus Ziegeln, Poesie aus billiger Ware, schragt der Kalimegdan, die zerschossene Festung aller Symbole, an Belgrads donauzugekehrter Achsel hangauf, Sockel über Sockeln, Piedestale über Piedestalen, auf denen nichts je steht: eine Serie von Monumenten, die der Figur harren, Monumente, die nichts als wieder sich selber tragen; eine fruchtlose Pyramide der Sehnsucht, eine Klimax, karg bemessen, ins Ungemessene. Man genießt den schönen Ausblick ins gelobte Land der ungarischen Serben und Schwaben. Kalimegdan, von kalos und mache (griechisch) benannt, ist die schöne Statt der Wettkämpfe, der Turnierplatz des allgemeinen Ehrgeizes, die Verkörperung des belletristischen Gesichtes, den Lebenskampf zu sehen. Der Serbe ist ja Poet. Aber er ist nicht so süßlich wie der Italiener, nicht so nobel auch, nicht so vollendet. Er ist ein frischer Emporkömmling im Poetischen. Er ist lebhaft und feurig; aber was die runden Bewegungen des Lateiners, sind an ihm Zuckungen, Interjektionen des Körpers gleichsam, Ekstasen des physischen Reizes. Er ist immer grausam, mit Genuß, messerheldisch in jeder Bewegung, aber mit mehr Gemüt und auch mehr Genuß davon, und nicht um der Pose der Leidenschaft willen. Er leidet unter der Fragwürdigkeit des Leidenschaftlichen wie der Pole, der Russe und – der Deutsche. Er ist der jederzeitige Schlafwandler des Triebes, der jederzeit zur Räson – und welcher Räson: im serbischen Krähwinkel stehen mehr Büsten Voltaires als irgendwo in Europa – ja zu dieser Räson erschrickt.

Das Streben zur Monumentalität drückt sich auch in seinen Farben aus. Der Serbe ist grell, aber nicht bunt. Die Farben haben etwas Großes und Besonderes, oder sollen es haben. Weite Einförmigkeit im Auffallenden kennzeichnet sie. Mineralgrün wie die serbische Prärie sind die Kleider der serbischen Frau. Es ist beinahe immer wieder dieses Mineralgrün in allen den konsistent gehaltenen Farben des Spektrums, das wiederkehrt. Man trägt viele Einfarben, aber sie sind alle mineral und grünlich. Man trägt Orange, Zitron, Chamois, beliebt sind Violett, Lila, Flieder, Heliothrop, Weinrot, man bleibt einfach, klassisch, groß über allen Teilen des Leibes. So ist der Serbe zwar grell, aber nicht bunt wie etwa der Italiener oder andere östliche Slawen. Gediegen in seiner Phantasie: seine Häuser, seine Farben. Er ist melancholisch-extrem, einförmig-exzessiv: seine Lieder, man würde besser sagen, seine Klagen. Der lustige Serbe ist stechend lustig. Das unterscheidet ihn von dem Deutschen, dessen forciertem, intellektuellem Typus er sich vielleicht wieder nähert.

Sein Haus, dieses kleine Monument seines engen Lebens, in heroisch schlichten Maßen häuslich gedeutet, verrät allerstärksten Geschmack. Oft vergrößert, ist der Raumwürfel an einer Seite aufgebrochen, die Wand um Schritte hineingerückt. Dann tragen einfache, schlanke Säulen das Dach und bilden eine antike Arkade. Dies ist schön. Zu dieser Schlichtheit fallen die extremen Einfarben der Frauentrachten nicht auf. Sie sind ein durchgebildeter Lebensstil, sie sind in Herz getaucht, wie die Räume aus Blick gemauert. Äußerstes, die Sättigung, die Fortführung des Lebens zu Gipfeln seiner selbst, restlos übertriebene, zu sich geläuterte Tinten auf jedem Gefühl, in jeder Handlung, dies ist serbischer Ehrgeiz. Man fand nicht grundlos in den Stuben armer Bauernstudenten Nietzsche-Ausgaben.

Was lebt an Mensch über diesem Mineral der Prärie, was träumt in den kleinen, harten Häusern? Als ich mit dem Kraftwagen durch Nordserbien fuhr, sah ich zwei Grüße, die mich blendeten, zwei Haltungen, versteinerte Seelenwinke, die mich erschreckten, so schön sind sie gewesen. Die erste war Demut: vom nobelsten Stolz dargetan. Es war eine Art Salaam, jedenfalls ein höfischer Rest aus Türkenzeiten. Frauen, junge und alte, die in Gruppen auf einem Acker standen, bückten sich, als der Kraftwagen mit Offizieren vorbeifuhr, gelassen zur Scholle, führten sie symbolisch zu Stirn und Kinn. Ein anderes Bild gab dies her: In einem Garten beim Busch stand ein junges, kräftiges Mädchen. Ohne Eile, als der Wagen nahte, riß es einen langen Blütenzweig ab und hielt ihn edel schräg über das Kopftuch uns entgegen. Dies war die Natur. Schöner grüßt euch die berühmte Tahitianerin nicht als diese serbische Magd. Ihr Inneres ist voll Stellungen, Romanzen, gedachten Monumenten.

Die serbische Frau hat die weichen Formen der Prärie, aus der die Züge plötzlich des Felsens starren. Ihre Prärie ist ein Riesenmensch aus Gebüsch und Rundheit, kräftig geschwungene Wiesenfrische; aber das Gesicht aus Felsen, die Knöchel aus Felsen. Die serbische Frau blickt aus Felsen und geht auf Felsen. Die Augenbrauen sind stark und „brauen“ über einem hervortretenden Stirnbein. Es macht das Gesicht, wenn die Augen glänzen – und sie glänzen verzückt, geheimnisvoll und tief. Die Nase ist kräftig, wenn nicht hamitischer Einschlag von Zigeunern sie verplattet hat. Um den Mund ist das Gesicht verwildert; hier sprechen andere Rassen als der arische Slawe mit. Serbien war das Land, wohin Byzanz’ wildeste und freieste Sklaven ausbrachen. Kriegszüge aus Asien streiften Serbiens Weiber. Türkische Harems, seltsamen Geschmackes voll, hinterließen das Gebiß kurioser Odalisken, das verbrauchte Lebemänner durch seine Tierheit gereizt haben möchte. Der serbische Teint ist bäurisch; er ist, wie der Mund, unslawisch. Die Slawen sind sonst unter Europas Völkern das teintzarteste.

Das Auffallendste der serbischen Frau ist der Fuß, die mannbar starke Fessel. Dieser Knöchel ist felsig. Ihn hat die Bäuerin und die Belgrader Dame. Man führt ihn darum auf das ausgesucht schlechte Pflaster der Straße zurück, die mit Katzenköpfen, einem homerischen Straßenbaumaterial, ausgelegt sind. Aber ist wirklich dieser Fuß die Folge der Straße oder hat nicht jedes Volk vielmehr die Straßen, die sein Fuß verdient? Der serbische Fuß ist ungraziös, aber er schreitet, beobachte ihn gut, richtig und resolut vorwärts. Wenn die Serbin barfuß oder in Holzpantinen geht, geht sie hübsch, sogar liebenswürdig. Härten sind erwünscht, Unebenheiten am Leben sind geschmackvoll. Zyklopisch im Kleinen, verrät sich serbischer Drang auch in seiner Straße, in der vollkommenen Übertreibung, die an das Lachen grenzt.

Dieser heroische Fuß, der über Katzenköpfe zu gehen beliebt, ist die Karikatur des Serbischen, wie sie die Natur geben wollte. Dieser Felsenfuß steht, romantisiert, schön geworden, zärtlich-roh im Gesicht des Serben und der Serbin. Denn das serbische Gesicht enthält eine Roheit, die ästhetisch einzuschätzen ist. Diese Gesichter bei Mann und Weib ziehen an. Diese Überschärfe, Eckigkeit, Monumentalität des Gesichtes wirkt spannend auf die Einbildungskraft des Reisenden, der den seelischen Hinterhalt der serbischen Felsenmaske gewärtigt. Er ist bereit, sich überfallen zu lassen. Ehe er sich’s versieht, ist der Eroberer erobert. Das serbische Mädchen im Kopftuch, das den Blütenzweig zum Gruß bog, ist eine Jeanne d’Arc seiner Rasse. Wildheit, Tiefe, knochige Natur leben noch, ungeschmeichelt in den Zuckungen, mit denen diese die Kulturvölker der europäischen Mitte begehrt. Ihre Zeit ist gekommen, sie wird erhört.

Die Prärie, der Riesenleib der serbischen Frau aus Buschen und Gräsern, schlingt sich sanft um den Reisenden. Wenn Rassen zusammenkommen sollen, wird es eine künstlerische und erotische Angelegenheit für den Einzelnen. Eroberung ist immer Liebe, die Völkersynthese ist immer Dichtung. Und wenn die große Katastrophe des Ineinanderverschwindens nur von einem einzigen tiefst erlebt wird, ist sie vollbracht. Für alle geht der Eine an das Kreuz der Dichtung, nimmt den Hohn, den große Ereignisse stets zeitigen, auf sich und läßt seiner gehandelten, im Einzelfall Geschichte werdenden Menschenliebe die formenden Zäume schießen.

Das Monument der serbischen Prärie ist ein kleines, viereckiges Haus. So weit die Entdeckung. Später erst fällt einem der Dalmatiner Meistrovic[2], der Monumentaliker der südslawischen Bildhauerei, ein. Dieses Haus in der Prärie ist alles, was in der Eintönigkeit immer wieder frisch wirkt. Es ist bedeutungslos wie ein tiefer menschlicher Zug, den man nicht bemerkt, weil er Wesen ist. Wenn alles Irdische ein Gleichnis ist, ist dieses irdische Haus das Gleichnis einer kleingezwungenen Monumentalität. Das Leben ist eine Dichtung vom Figürlichen ins Figürlichere. Die Prärie, das rechteckige Serbenhaus, verstreut, liegen in der serbischen Seele, nicht nur auf einem Fleck den die Landkarte wiedergibt. Eine konstruktive Hand erst wird aus diesen Hausblöcken das Monument zu türmen haben.

 

Belgrad

Robert Müller[3]

Über Belgrad liegt es von Abenteuer und Provinz, Unreife und Verwelktheit. Die Stimmung ist amerikanisch, das Impromptu überwiegt, das Sachliche und das Flotte gehen Hand in Hand. Alles ist alt und verstört, und zugleich ist alles neu, geschwind, von heut auf morgen. Gewaltige Betriebe sind aus dem Hurrah entstanden, Beschleunigung und Zwang ergeben ein hitziges und doch kahles Gepräge, Solides steht neben Dürftigem und Lückenhaften: so ist es gleichsam das Amerika des Donaustrandes, das südöstliche Neuland der mitteleuropäischen Kultur.

Belgrad ist eine Verwaltungsstadt, eine Stadt der Arbeit, des Unternehmungsgeistes, der Ökonomie, der Zusammenfassung aller Landeskräfte. Es war eine poetische Stadt: dazu hat die Natur und der Sinn seines Volkes es bestimmt. Nun sieht es nicht viel von Lustbarkeiten. Die großen Lokale sind geleert, von Granaten eingerissene Mauern, Sparrenwerk, Zusammenbrüche von Räumen, die ehemals der heftig geäußerten Lebenslust gedient haben, sind das Fundament, auf dem jetzt Sachorganisationen, Nutzinstitute, Bureaus, notwendigste Zentralen der aufbauenden und systemisierenden Tätigkeit werken. Statt der glänzenden, lauten, debattierenden, flirtenden, träumenden Erfolge serbischer Offiziere, statt prächtiger Adjutanten, nobel aufhauender Instrukteure aus Paris, London und Petersburg, gehen jetzt einfach uniformierte Männer mit strengen und ein wenig müden Zügen durch die Gassen der Stadt, von den Pflichten des Tages sprechend, vom Entwurf neuer Organisationen, von Hemmungen, Resourcen des Landes, Möglichkeiten und Renten des schon Geschaffenen. Ein Heer von Verwaltungsoffizieren, eine vielsprachige Männernation von Organisatoren hat die Stadt überflutet. Ihr Auftreten ist schlicht, ihre Arbeit lang, ihre allgemeinen Gespräche kurz. Sie tragen die Uniform des Kaisers und Königs nur in Ämtern und Übungen, die ihnen des Friedens Brot und Laufbahn waren, der Erwerb für Haus und Familie. Denn die meisten sind Familienväter, die Überzahl hat den Kampf im vordersten Graben gesehen, bis besondere Anlage oder verkürzte Kampffähigkeit sie an diese Kurbel der großen Kriegsmaschine berief. Der Schöpferwille Mitteleuropas, rassig im Vielnationalen, hat in einer modernen Völkerwanderung seine sachlichen Naturen über die alten Grenzen abgestoßen, uns neue Gebilde erzwungen.

Dieses Verwaltungsheeres im Kulturbrachland, im Amerika der Donau, als einer heroischen Erscheinung der Zeit, wird man einst gedenken müssen.

Der frühere Mann und sein Gehaben, seine Gäste und seine Feste waren poetischer. Das verbliebene Volk mag sie vermissen, sein Naturell bleibt dieweils noch unbefriedigt, denn sie waren mehr seiner Art. System, Zucht und Richtung schaffen Wohltuendes, aber sind nicht wohltuend. Größe ist in diesem modernen Kulturleben, das aus Mitteleuropa herüberströmte, unanschaulich, sie ist so bemeistert, daß sie sich nur in ihren Werken andeutet. Der Schaulust des Monumentalikers genügt sie nicht. Er wird sich noch lange nach dem Glanze sehnen, der vollen Gebärde, dem Glück der Darstellung, der Feinheit des Sinnlichen. Muß sich sehnen, bis diese neue Verwaltungsmaschine, die inmitten der Ziegelruine einer Zivilisation noch Staub aufwirbelt, zu jener Eleganz gereift ist, die das früher elegante Lebensideal ersetzen kann. Doch ist Belgrad gegenwärtig seine eigene Ab­straktion. Aber wirtschaftliche, militärische und technische Vollendungen können mususch[4] werden; das zertrümmerte und beweinte Monument wird sich vielsagender und lebendiger als Baustein im größeren Organismus in der mitteleuropäischen Massengesellschaft, im zeitgewollten Globus empfinden.

Die alte Eleganz, die der amerikanistisch-militaristische Betrieb, der Dingfleiß, die geschäftige Genußohnmacht, aber auch der stärkste schöpferische Idealismus heute dieser Stadt ersetzen, ist in der Politik und der Waffenchance, die ihr eigen waren, historisch gerichtet worden. Sie verdrängen dürfte nur jene neue; bis dahin, wo für einen Menschenwert der reifere übergeben wird, muß gewartet werden und zart geschont werden. Nur, wer eine neue Poesie gibt, darf eine ältere, die für den Liebhaber des reichen Lebens ihre Entzückungen hatte, ablösen. Daß man sie versteht, wird der erste Reiz der Neuen sein. Aber die alte war dennoch nie so echt, daß sie erhalten bleiben müßte. Sie wird sich, im Gegenteil, erst zu füllen und zu verstetigen haben. Das Beispiel soll erläutern. Die Beschießung hat die schönsten und größten Häuser, die aufdringlichsten jedenfalls, gestreift und guten Geschmack bewiesen, indem sie den schlechten bloßstellte. Hohle Blechvoluten und Kariatyden, die angekalkt waren, hängen jetzt in Fetzen an Erkern, die sie tragen sollten. Billiger Reichtum, öde Größe, falsche Monumentalität sind seitdem in den Straßen von Belgrad zur Schau gestellt, Dichtigkeit gähnt, Anstrich täuscht nicht mehr Inhalt vor, Halbheit grämt sich verlassen nach Gänze, die nie war. Wo dies Ausdruck sein sollte, Selbstwille, Darstellung, durfte mehr als dieser Ausdruck lädiert werden: eine Volksseele. Ihr Besseres wird als Glied einer weniger eleganten Gesellschaftlichkeit, die einer höchsten Welteleganz immerhin zuschreitet, zu seiner eigentlichen Poesie kommen.

Der Phantasie junger und starker Völker bietet der mechanistische Prozeß, der sich von Mitteleuropa her über die Welt ausbreitet, nichts. Die Eroberung unter die Nüchternheit wird mit Schrecken empfunden. Denn solche Völker ahnen nicht, welche Kräfte der Phantasie, der Selbstbesinnung, der Muße, der lieblicheren Lebensbetrachtung durch die Mechanisierung freiwerden. Es wäre indes falsch, jener naturhaften und schönen Phantasie sehnender Völker mit knarrendem Ernst entgegenzutreten; sie muß verstanden, gepflegt, ihre Wunden gekühlt, ihre Träume geahnt und dadurch erlöst werden.

***

Über den Trümmern einer zerschossenen Stadt, über einer historischen Schicht, über einem Zivilisationskomposthaufen zirkuliert jenes kalte und federnde System, der Verkehr; noch so primitiv und schon so smart. Geworfene Halbkultur füttert aus ihren Resten und Ruinen neuwerdendes Leben. Die elektrische Bahn, die geradewegs über eine Ruine führt: dies wäre das Bild zu dem seltsamen serbischen Amerikanismus, dessen nüchterne Überraschungen beinahe schön wirken. Es ist hier wie zur Zeit der mykenischen Kulturen, wo neue Lagen in den Schutt der altversunkenen gegründet sind. Belgrad macht einen unaufgeräumten, aber hochorganisierten Eindruck wie junge Städte im amerikanischen Westen. Man denkt an Seattle oder Frisco nach dem großen Erdbeben. Zum Aufräumen war noch keine Zeit; es galt, neu zu schaffen und zu konstruieren. Aber die neue Organisation verbraucht den Unrat, und Scherben und Trümmer saugt der neue Hochdruck, einmal eingeschaltet, von selbst auf. Man baut und ordnet großzügig, Lücken füllt die Zeit aus. Diesem Werden zuzusehen, wird Erlebnis; es zu erfassen, bedeutsam. Drin zu stehen, verkürzt wie überall den Blick dafür. Dieses Verwaltungsheer kommt sich nicht so bedeutend vor als es in der Tat ist.

Zum Belgrader Amerikanismus findet sich von selbst ein Bild in seinem jetzigen Leben. An den Terrazije, der sich gelegentlich mächtig ausbuchtenden Hauptverkehrsader, verkauft, bewirtet und verdient ein barartiges Lokal, halb vornehme Schank, halb Café und Konditorei, dessen Wirte ein Konsortium von vier Damen der früheren Gesellschaft sind. Eine von ihnen ist Professorin. In der Trafik zwei Häuser weiter, steht eine hohe serbische Offiziersdame hinter den Scheiben und reicht Tabak und Postkarten. Eine Ministerstochter klopft irgendwo in einer Kanzlei Maschine. Persönlichkeiten schreiben in Geschäften. Es geht gut, wenn man sichs auch besser wünschte, aber man geniert sich nicht. Vorurteile fallen und beweisen, daß sie grundlos waren. Die Arbeit allein zählt. Das Gesicht sieht nach vorwärts, der Kopf, im eisernen Exempel der groß angegliederten Maschine rechnend, stemmt nach vorne. Der Verkehr hat einen resoluten, dinglichen, unternehmungslustigen, unverträumten Ton. Es ist ein Platz für Amerikaner. Und werden sie nicht kommen? Die Schlachtfelder, eine nationale Zukunftsindustrie, ein blutgetränkter Bodenschatz, erwarten sie; der Kalemegdan, der zerschlachtete alte Schlachtenplatz, macht sich so schaurig wie möglich für sie. Schier unerforschliche Römerbrunnen, geheime Gänge, politische Verließe; der „Fürchte-dich-nicht“-Turm des Türkenspottes, aufgeklappte Paläste und Soldatenkirchlein; Sehenswürdigkeiten, die von Granaten entdeckt und von Volltreffern zur Vollendung der Ruine gemanaged wurde, erzwingen Andacht für ihre bizarre Schönheit. Aber neben und über dem verrückten Wirrwarr der drolligsten, erhabensten und sentimentalen Zerstörung springt scharflinig und exakt, von der Zeit erfunden, von Soldatengeist durchgeführt, ein neues, murmelndes Leben hervor, dessen Rhythmus aufhorchen macht.

 

Requiem in Belgrad

Robert Müller[5]

Die Zwiebelkuppel der orthodoxen Kirche von Belgrad verzischt stumm ein lautloses Raketenfeuerwerk, die Sonne eines heftigen Vorsommertages, Choräle tönen aus dem Bau, vor dem Reihen von Wagen und Automobilen sich in die Stahlfedern lehnen wie Lebewesen, von Hitze betäubt; ein wenig schiefgeneigt zum Bürgersteig, mit den Rädern der einen Seite in der Gosse. Die Gespanne aber tänzeln, traben an Ort und Stelle, von Insekten gequält. Der Geruch von Pferden und Benzin mengt sich mit Weihrauch, der nun durch die Portale quillt. Österreichische, ungarische, deutsche und bulgarische Offiziere zagen, noch von Mystik und Stimmung dem Tag entwöhnt, aus dem Kirchenschiff, heben die Säbel in den Arm, knöpfen hellgelbe Handschuhe, grüßen frontierend den Gouverneur. Plötzlich filmt sich ein Farbenchaos auf dem kleinen Platz vor der Kirche, eine etwas erweiterte Wegkreuzung; ein bunter Menschenteppich, sprießt hurtig in den nahen Straßenbündeln auf, grelle Blasen steigen nacheinander empor und bleiben über den Köpfen der Menge hängen: die Sonnenschirme der Damen. Ein gereinigtes Lächeln, ein höfliches Glück, zurückgehaltene Intimität vereinigt und sondert weder die Mienen; befriedigt von gegenseitigem Zeremoniell und Anstand trennt man sich wieder, nachdem man sich im versöhnenden Akt, in einer europäischen Anstandsgeste bereitwillig getroffen hatte. Die Offiziere, schlanker als sonst vom gelben Ring ober den Hüften, dem Dienstgürtel, schwirren auf Gefährten davon zur täglichen bureaukratischen Arbeit. Die Belgrader Gesellschaft, viele Damen, färbt bunt in den Betrieb aus, punktet und fleckt das Hitzweiße der größeren Straßenzüge. Verfeinert, wie nach einer inneren Leistung, neu, wie nach einer Beichte, milde, wie nach gegenseitiger Kenntnis, beginnt der Belgrader Mensch wieder zu emsen, zu tun und zu verwalten.

Nichts Geringeres hat sich ereignet als dies: Am Tage vor dem katholischen Gottesdienst, der zum Andenken der Opfer von Sarajewo stattfinden wird, erklärt die griechisch-orientalische Kirchengemeinde, freiwillig, drei Stunden nach dem katholischen einen eigenen Gottesdienst abhalten zu wollen. Dem toten Erzherzog und seiner interessanten Frau wurde ohne die Aufdringlichkeit eines demonstrativen Loyalitätsaktes die menschliche Achtung bezeugt, jenseits des politischen Ereignisses die Sühne geboten, jene Genugtuung vermittelt, die in der prinzipiellen Ablehnung des politischen Gewaltmittels liegen kann. Ein Gefühl, vielleicht weniger als rechte Reue, aber doch mehr als bloßes europäisches Mitempfinden, keine Scham, aber doch Mißbilligung gestaltete die Zeremonie. Es wäre falsch, sie der Beflissenheit entsprungen anzunehmen, sie erfüllte sich aus einer natürlichen Noblesse, die im Volke liegt. Dieses Volk, genial, ursprünglich, zu Gut und Bös gleich begabt und zuerst von seinen Lehrern mißverstanden, seinen Politikern in fremden Großstädten, die es zur Kleinarbeit, zu Putsch und Verschwörung verzogen; dann von denen, die das Opfer dieser Arbeit waren, aber nicht wissen konnten, wie bedeutend und kraftgenialisch der Schüler ist, dessen wilde Tat die armselige Inspiration freilich an Lebendigkeit übertreffen mußte; dies Volk wäre auch diesmal mißverstanden, wollte man in seiner Anstandsvisite bei Europa, seinem Versuch in verfeinerter Gesinnung Demut oder auch nur Belehrung sehen. Wie es heute ist, zerrissen in fiebergeschreckte Männer, deren Bataillone Saloniki zum Problem werden, und in harmverbergende Frauen, Greise, Krüppel und Kinder, ist es einer besonnenen Einschätzung nunmehr würdig geworden. Dieses Volk hat den Krieg, den es zwar nicht verursachte, aber auslöste, bis zur Neige verkostet. Ätzender als irgendwo ist der Krieg durch seine Leiber, seine Seelen und über seinen Boden geronnen. Er hat es nicht gedemütigt; aber er hat es gemildert, er hat es zweifelsohne feinfühliger, melancholischer, gehaltener gemacht. Mehr zu erzielen, der liebe Gott sein wollen, der das leidenschaftliche Menschenherz wandelt, kann das Verlangen eines weisen Politikers Mitteleuropas nicht sein. Das Requiem in der griechischen Kirche zu Belgrad dar ihn nicht herrisch machen, es muß ihn rühren.

Die Zwiebelkuppel dieser Kirche ist heute ein goldener Tropfen nach aufwärts, in einen hitzblauen Himmel, der weiße Wolken raucht; ist die gigantische Metallträne eines Landes, aus tausenden Augen, die den Schmerz kennen, am Jahrestag, als es Schmerz über sich verhing: eine Träne, nach aufwärts, aber hart, noch immer hart. Und schön und erlösend, weil die Zeit gekommen ist.

 

Belgrad

Schluß

Robert Müller[6]

Belgrad besteht heute aus der vermißten alten Halbeleganz und tragikomischen Romantik zerrütteter falscher Fassaden, einer Nuditätengalerie des ehrlichen Wollens mit falschen Mitteln, aus der Unauffälligkeit der fleißig wirtschaftenden Arbeit, aus der schönen Zertrümmerung, aus der Nüchternheit, doch Frische und Freiheit der Sache. Aber dies alles ist noch nicht Belgrad. Belgrad ist noch üppiger Park, alles beherrschender Busch und Baum, warmer Duft aus Jasmin, Akazie und Linde. Er streicht durch die Gassen, haftet an den Menschen, nistet in den Winkeln der nun so zahlreichen Schreibstuben. Kastanien, Ahorn und riesentatzige Platanen greifen aus, stehen dick zwischen Häuserzeilen, Wänden und in Höfen. Der Geruch ist stark wie ein feiner, unsichtbarer Staub, wenn die Frauen schreiten, scheinen ihn ihre Kleider aufzuwirbeln. Kirschenbäume tropfen rot von Früchten, sprudeln lackrote Punkte entlang der Äste hervor wie im Blütenfall. In Topcider, dem Naturpark, steht vor den Milanschloß mit dem türkischen Tor die uralte Platane der Obrenovic; ihre schweren Äste sind von rostigen Eisenträgern gestützt. Wie ein Schwamm ist der Baum über das Eisen gequollen, wie Sauglippen hat das Holz um die Stäbe gegriffen und hält sie jetzt fest. Diese naturalistische Wachswildheit der Parkgrundlage von Belgrad sticht scharf ab von dem schoflen Blendwerk seiner Architektonik, aber sie gesundet sie, macht sie auch dem leichtverletzten Geschmack verdaulich. Zusammen ergibt es diesen Stich ins Bizarre, der unsere Stadt zur etwas orientalischen Schönheit macht.

Und laßt die Sonne zum Abend gehen: dann gleißt der Ball über dem Häuserriegel von Semlin schräg gegenüber. Save und Donau sind über die flachen Ufer getreten und bilden einen Hafen bis an den Horizont. Aus dieser stillen, von steten Böen gekräuselten Fläche schlagen Farben wie Flammen aus einem riesigen Ölbrand. Alles blitzt, glimmt und zerrinnt in brennende Flecken, daß das Auge des Beschauers schmerzt und sich abwendet. Wenn Wolken die Helligkeit abblenden, blüht es dort unten, vom Belgrader Hügel, dem Kalemegdan, gesehen, wie grau erzitterndes Silber auf, eine flüssige Asche, die Farbenstarre eines erlöschenden Farbvulkans. Süß duften am Abend die saftigen Gräser auf den molabreiten Mauern der Festung, und just in den Granattrichtern hat sich rotwilder Mohn gestaut, den die Abendbrise neigend entblättert.

***

Belgrad ist eine internationale Stadt. Die Armeen Österreich-Ungarns haben im feldgrauen Gewande die vielfachen Typen der Monarchie, in ihrem Offizierskorps und den Mannschaften versammelt. Feldgrau ist die Pointe auf den Straßen, entsprechend dem sachlichen Lebenswillen der Stadt. Aber es hat seine Schatten und Fette. Grüne Deutsche und lodernde Bulgaren kommen einzeln und in Trupps. Ein kleines Heer von Kriegsgefangenen durchzieht täglich die Straßen, breite Russen und sehnige Serben, schlendernde Italiener mit hübschen, aber ob der Arbeit verstimmten Gesichtern und räkeligen Bewegungen; es sind Alpinihüte darunter. Sie alle tragen sichtbare Nummern auf Blechschildern an Mützen und Hüten; an Hüten, weil mancher für eine klingende Draufgabe sein militärisches Original mit einem zivilen Strohhut oder ähnlichem vertauscht hat. Türkische Pluderhosen und Fes stehen an den Straßenecken und mundschenken bierfarbenen Met aus hübschen Messingkannen in Gläser. Muslims in blütenweißen Turbanen, den Träger mit sakralem Anschein umgebend, lehnen mit vorgestreckten Beinen im Eckcafé und rauchen aus langen Pfeifen; Besitzer, Nichtsbesitzer, Allesbesitzer, zufrieden, auch wenn der Gast die weiß gedeckten wenigen Tischreihen von außen bewundert; und vielleicht ist unser Muslim nicht einmal auf diese Bewunderung angewiesen, so wenig wie auf die auffallende Sauberkeit der Stube, die vielmehr von dem großen, wildgesichtigen Militärpolizisten des Kaisers und Königs ausgehen mag, dessen altertümlich langes Bajonett an der Kreuzung Ruhe und Regel des Verkehres aufrecht erhält.

In den Außenbezirken werden die Häuser klein wie Praterbuden und enthüllen ein wirbelndes östliches Leben. Die Menschen hier haben groteske und scheue Gesichter, sind aus Wanderrassen und notorischen Abenteuervölkern gesammelt; roh und unverblümt, aber oft prächtig und beglückend äußern sich die Gewalten der Menschenseele in diesem Straßendasein. Spaniolen mit weißen fetten Zügen stehen und sitzen vor ihren überladenen Geschäften; noch ‚wilde‘ Juden sozusagen, ein wildes, überschüssiges Gewächs in dem drakonischen Ziertopf ihres Ghettoprinzips. Ihre kleinen Frauen, schön, dunkel und schmutzig, sehen mit graziös gezähmtem Verlangen ins Leben hinaus, aus Verzicht zum Spott geneigt, durch Steife die ungesättigte Sehnsucht zu Ironie verwertend. Zigeuneralte siedeln sich zerfallen und restlos verkommen in Winkeln umher; sie sind ebenso stumpf als ihre Jungen überwach, deren schwarze Ägypter- und Hindugesichter in jedem Gedränge, jeder Balgerei, bei jedem Kauf, jedem Straßenvorgang spürend und geistesgegenwärtig, auf Bettelei bedacht, auftauchen. Überall zwängen sich diese kleinen altklugen Leiber, fertig in ihrer Form wie winzig geratene Erwachsene hindurch, weichen der Drohung zäh und praktisch aber furchtlos aus und verwenden, vom Zartsinn unbeschwert, jedes Mitgefühl oder Interesse. Sie leben hier, schon ganz östlich, wie die herren- und hoflosen Hunde leben, die aber, weil sie die sanitäre Ordnung als Bazillenträger gefährden, in nächtlichen Treibjagden von der Polizei abgeschossen werden. Es klingt das erstemal die nächtliche Rebellion. Auch diesen Reiz besitzt das sonst gar nicht auf Aufregung angelegte Belgrad.

Die Belgrader Kreise kleiden sich gut. Neben der Dame, die Moden aus Wien und Paris trägt und Schuhe von Del-Ka oder einem Geschäftsamerikaner, geht die starke serbische Bäuerin in Spagatschuhen, Opanken und im groben Kittel, der sich in Farbenringen um die Hüften dreht, ein Insektenleib. Über der Achsel trägt sie eine Spange, an deren Enden das Gepäck schlenkert. Das kleinbürgerliche Mädchen, in das die Dame übergeht, denn die besten Familien sind außer Landes, kleidet sich im Schnitt solid, nicht immer charmant, in den Farben jedenfalls grell. Man hält, auch bei den Herren, auf gutes Schuhwerk; der Schuhwarenläden sind auffallend viele. Die Herrenmode ist bequem und lehnt sich an Italien und London an. Die Frauen sind dunkelrassig. Unter den Männern sieht man arische Typen, viele große schmale Figuren mit breiten Schultern, heller Komplexion, engen Schläfen. Hier ist auch einmal Ostgotenblut durchgegangen.

Ostgotenblut mag den Weltdrang, die Monumentalität, den ungestillten Herrenwillen der Serbenseele hinterlassen haben.

***

Nun sind die Goten wiedergekommen. Wie damals, so kommen sie auch heute nicht allein. Fremdes Kriegsvolk ist unter ihnen, schlägt die Schlachten und gewinnt sie ihrer Organisation. Slawen kamen einst wie heute in der Gefolgschaft der Germanen, als Schwestervolk, seit die Geschichte Europas abläuft. Was wir erleben, ist nur der letzte Ast der Völkerwanderung. Die Völker der Mitte überströmen das Zentrum ihrer Herkunft und schieben ihre Mitte umfänglich hinaus. Aufzunehmen, sich austauschend zu erobern, sind sie von der Natur in die Geschichte gesandt. Mit Aufgenommenem, als Ausgetauschte kehren sie mit dem Sinn ihrer Urersten wieder. Diese Völkerwanderung als Staat und Organisation, als imperiales Naturgebot, ist vor allem Österreich-Ungarn. Als Träger eines Gesellschaftsgedankens, der im Norden vor Römerzeit geboren wurde, finden sich die Rassen und Völker Österreichs bei den Verwandten ein, deren lang bestrittenes Schicksal sie zur Mitte ruft. Ohne die alte, in einer neuen poetischen Verklärung, dem Sachlichkeitbetrieb, der die Seele nicht stört, sondern fördert, spiegelt sich dem distanzierten Blick der Gang der großen Ereignisse in der vielfältigen Ereignislosigkeit von Belgrad wider.

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Ich sehe Belgrad und Serbien im Bilde des Kalemegdan. Eine harte Stirn stieß an Europa von Süden. Die Augen, dicht überbuscht, tiefliegend wie Felsenforts, blinzelten in die Nordwestsonne. Der Mund, Quadernkiefer, verliert sich im bezwingend Weichen und Vielen, das er nicht zermalmen kann. Der Dämon der Mitte bannt, Donauwasser spülen und rauschen zwischen seinen Zähnen, schäumen zu seiner Stirn empor. Das Gesicht ist tief in ihr Wasser vergraben.

Dieses Wasser, eine länderlange Schlange, ringelt sich aus dem Nordwesten an den Kalemegdan heran. Ihr entlang müssen Völker sich finden, so will es die Natur. Es ist die Donauvölkerschlange. Ihr Weg ist langsam und weit, aber unaufhaltsam, ihr Haupt endlich sichtet die Mitte von Asien. Von der Mitte zur Mitte! Dort, wie die Save mündet – und die Save ist nicht eigener Fluß, sie ist Donau, Lungenflügel, wie später die Theiß, die rechte Kieme des Wasserwesens – wo die Save mündet, sprengt diese ungeheure mitteleuropäische Schlange die Kiefer, die sich nach Europas Mitte geöffnet hatten. Die Stirn birst, der Balkanschädel zittert und erstirbt. Das Generalsstabsgebäude am höchsten Punkt des Kalemegdan zersplittert und verbrennt. Nun geht die unaufhaltsame Völkerschlange ihren Weg nach Osten weiter, ihren Weg zur Mitte. Sie kriecht durch einen Totenschädel, ihre Wasser spülen die toten Lefzen eines versinkenden Maules aus. Die Augen oben im Gebäude des Generalstabes starren hohl.

Die Augenlichter Asiens, eins um das andere, erlöschen. Poesien, die wir verehren müssen, sterben, Poesien erobern.

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[1]         (Von unserem R. M.-Korrespondenten in Belgrad). In: Wiener Mittags-Zeitung Nr. 123, 27. 5. 1916, S. 3.

[2]         Ivan Meštrović (1883–1962) war ein Bildhauer und Architekt aus Kroatien, der nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA emigrierte.

[3]         (Von unserem serbischen R. M.-Korrespondenten). In: Wiener Mittags-Zeitung Nr. 145, 27. 6. 1916, S. 3.

[4]         musisch.

[5]         (Von unserem serbischen R. M.-Korrespondenten). In: Wiener Mittags-Zeitung Nr. 155, 10. 7. 1916, S. 3.

[6]         (Von unserem serbischen R. M.-Korrespondenten). In: Wiener Mittags-Zeitung Nr. 159, 14. 7. 1916, S. 3.